Dies Domini – 25. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Theologen können wunderbare Sätze bilden: „Gott liebt die Armen, er ist solidarisch mit den Schwachen.“ Das sind Sätze, die so schön anzuhören sind, dass man sie am liebsten einer wertvollen Keramik gleich in eine gut klimatisierte Vitrine stellen mag um sie immer wieder zu bestaunen. Nur berühren darf man sie nicht, denn dann könnten sie Schaden nehmen wie antike Artefakte, die man gut konserviert in Staub und Schlamm und Schlick findet. Solange sie dort verborgen waren, überdauerten sie die Stürme der Zeiten erstaunlich unbeschadet. Den Alltagsschmutz des Lebens aber vertragen die schönen Altertümchen nicht. Man muss sie schnell wegschließen und bestaunen. Nur gucken ist erlaubt, anfassen auf keinen Fall!
Das Wort Gottes ist zwar Fleisch geworden, wie es im Johannesevangelium heißt, und hat sogar unter uns gewohnt (vgl. Johannes 1,14) – aber das scheint schon lange her zu sein. Der Gleichmut jedenfalls, mit dem das Wort Gottes nicht nur in den sonntäglichen Eucharistiefeiern gehört wird, lässt nicht darauf schließen, dass das alte Wort Gottes auch heute noch Gestalt annimmt in den Leserinnen und Hörern der Gegenwart. Man muss schon zugestehen: Es wird ob der ihm zugeschriebenen Heiligkeit verehrt – es ist immerhin das Wort Gottes. Aber genau das scheint gleichzeitig die Schwierigkeit zu sein. Die zugeschriebene Heiligkeit macht das Wort Gottes lebensfern. Es wird entrückt in die himmlischen Sphären. Niemandem fahren wirklich Schrecken noch Freude in die Glieder ob der Verheißungen, die dort vor Generationen zuerst von Mund zu Ohr und von Ohr zu Mund weitergegeben wurden bevor man sie aufschrieb und so in alle Ewigkeit fixierte. Ja, nach der Lesung verkünden Lektorinnen und Lektoren an vielen Orten: „Wort des lebendigen Gottes“. Aber hat das Wort Gottes auch die Hörerinnen und Leser berührt? Oder haben sie es nur dumpf durch das Panzerglas der Heiligkeit vernommen als etwas, das letztlich nicht mehr relevant ist, alt eben, vergangen, bestaunenswert, irgendwie auch schön, aber merkwürdig geistlich unlebendig?
Das Wort Gottes kennt dieses Schicksal. Zu allen Zeiten hat man es durch Heiligkeit entschärft. Man verneigt sich vor ihm und küsst es, um es zu beruhigen und den eigenen Wankelmut zu besänftigen. Manch eine Verneigung gerät zu tief, um die gemeinte Demut zu kaschieren – und der Kuss bleibt nur allzu oft leidenschaftslos. Vorleser sind noch lange keine Propheten. Wären sie es, sie würden mit Leidenschaft den Worten eines Amos Gestalt geben, auf dass sie im Leben der Hörerinnen und Hörer Wirkung entfalteten:
Hört dieses Wort, die ihr die Schwachen verfolgt und die Armen im Land unterdrückt. (Amos 8,4)
Kaum vorstellbar, dass diese Worte, die am Beginn der ersten Lesung vom 25. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C stehen, einfach nur vorgelesen würden, mehr hauchend gesäuselt, weil sie doch das Wort Gottes sind – als wenn der Heilige Hauch Gottes sich in einem aspirierenden Sprechen ausdrücken, das pathologisch eher einer logopädischen Therapie bedarf denn echter Ausdruck tiefer Ergriffenheit ist. Wer sich von diesem Wort wirklich ergreifen lässt, dem bleibt das Säuseln im Halse stecken.
Hört dieses Wort! (Amos 8,4a)
Die Lesung hört mit einem Befehl an, der keinen Widerspruch duldet. Er ergeht heute an die Hörerinnen und Hörer genauso wie damals. Der Beginn dieser Lesung schreckt auf. Er will ergreifen. Er zerschlägt das Panzerglas der frommen Vitrinen genauso, wie die folgende Adressierung des Rufes, der einer Anklage gleichkommt:
Ihr, die ihr die Schwachen verfolgt und die Armen im Land unterdrückt. (Amos 8,4b)
Da mag sich jetzt mancher ruhig in die Kirchenbank zurücklehnen. Man kann noch so verstohlen nach links und rechts schauen. In der Regel wird man dort niemanden finden, der aktiv Schwache verfolgt und Arme im Land unterdrückt hat. Alles in Ordnung. Man ist ja selbst nicht betroffen. Alles ist gut …
… wäre da nicht die Fortführung:
Ihr sagt: Wann ist das Neumondfest vorbei? Wir wollen Getreide verkaufen. Und wann ist der Sabbat vorbei? Wir wollen den Kornspeicher öffnen, das Maß kleiner und den Preis größer machen und die Gewichte fälschen. (Amos 8,5)
Die Anklage des Amos mag die heutige Hörerinnen und Leser in der Tat auf den ersten Blick nicht betreffen. Wer hat schon einen Kornspeicher und wer handelt wirklich noch? Auf den zweiten Blick aber geht es noch um etwas anderes. Das Maß soll kleiner, der Preis größer gemacht und die Gewichte sollen gefälscht werden. Es geht um Übervorteilung und Betrug. Das hört sich an, als beträfe es die meisten Menschen nicht. Wer hier aber wirklich in sich geht, der wird merken, dass er selbst wenigstens in den kleinen Bereichen seines Lebens betroffen ist. Wer hat nicht schon einmal bei der Steuer ein paar Kilometer mehr eingetragen; wer hat nicht schon einmal an der Brötchentheke den versehentlich zu gering berechneten Preis nicht korrigiert; wer hat nicht schon einmal, weil es ja doch keiner merkt, den eigenen Vorteil gesucht.
Und schließlich geht es um ein Drittes: den Zeitfaktor. Der Prophet Amos hält seinen Adressaten damals – und auch heute – den Spiegel vor:
Ihr sagt: Wann ist das Neumondfest vorbei? Und wann ist der Sabbat vorbei? (Amos 8,5a.c)
Neumondfest und Sabbat sind als Festtage heilig. Zwar galt am Neumondfest, das gemäß Numeri 28,11 an den Monatsanfängen mit Brandopfern begangen wurde, nicht wie der Sabbat als arbeitsfrei. Sabbat und Neumondfest strukturierten gleichwohl die Zeit in einen Wochen- und einen Monatsrhythmus. Sie bestimmten damit auch den Alltag. Neumondfest als monatlich wiederkehrender Festtag und der Sabbat als Ziel und Ursprung der Woche sollten die Zeit und damit den Alltag heiligen.
Nun lässt sich zwar aus Amos 8,5 schließen, dass man sich wenigstens zu Zeiten des Amos am Neumondfest der Arbeit enthielt. Der Prophet entlarvt dies aber als Scheinheiligkeit, weil bereits während der eigentlich heiligen Zeit das Trachten der Menschen alles andere als heilig ist. Sie sind schon während der Festtage damit beschäftigt, endlich wieder ihren „normalen“ Alltag zu planen. Dem Heiligen wird formal Genüge getan – aber eben nur der Form halber. Das Heilige bleibt auf Distanz. Man ergötzt sich am schönen Schein, der aber nicht zu lange dauern darf. Schließlich hat man noch etwas zu tun.
Der verstohlene Blick auf die Uhr bei der Predigt sagt deshalb immer zweierlei. Zum einen hat es der Prediger wieder nicht geschafft, das lebendige Wort Gottes wirklich leidenschaftlich lebendig zu verkünden. Wer so predigt, lässt Langeweile, nicht unbedingt Ewigkeit erahnen.
Zum anderen aber sind diejenigen, die sich nach dem Ende des Gottesdienstes sehnen, längst weitergezogen. Sie tun dem Heiligen der Form halber Genüge. Aber sie sind schon bei den Dingen, die für sie eigentlich wichtig sind.
Das Heilige und der Alltag – die Schwelle des Kirchenraumes trennt das Sakrale und das Profane. 2.000 Jahre Kirchen-, Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte haben den Kirchenraum zum einem dem Profanen enthobenen Sacrificium gemacht. Im Namen der großen Kathedralen ist noch erkennbar, dass man sich ursprünglich in Privatwohnungen traf, um das Wort Gottes dort zu hören, wo auch der Alltag stattfand: Im Domus, im einfachen Wohnhaus. Dom heißen sie heute noch die großen Kirchen, in denen man sich an der Heiligkeit ergötzt. Allein: Hier wohnt niemand mehr. Das Leben pulsiert vor den Toren der Dome und Kirchen. Innen herrscht andächtige Stille. Der Straßenlärm drängt allenfalls gedämpft durch die bunten Scheiben, in denen das Heilige wie in einer Vitrine aufbewahrt wird. Hier ist man heilig. Hier gibt man Gottes, was Gottes ist – wenigsten mit physischer Präsenz. Draußen aber wartet wieder das wahre Leben mit seinem Hauen und Stechen, mit seinen Konkurrenzkämpfen und mit seinen anderen menschlichen Zwängen – man muss schließlich sehen, wie man weiterkommt. Wo Amos noch rief:
Wir wollen mit Geld die Hilflosen kaufen, für ein paar Sandalen die Armen. Sogar den Abfall des Getreides machen wir zu Geld. (Amos 8,6)
heißt es heute so oder so ähnlich:
Wir müssen selbst sehen, wo wir bleiben. Nimm, was du kriegen kannst. Wofür haben wir sonst gearbeitet. Die anderen bekommen es doch geschenkt. Die Flüchtlinge bekommen alles und ich nichts. Und die Penner und Säufer wollen es doch nicht anders.
Die Mahnung des Amos sollte ins Herz treffen:
Beim Stolz Jakobs hat der Herr geschworen: Keine ihrer Taten werde ich jemals vergessen. (Amos 8,7)
Aber der Tag des Herrn ist noch so weit weg. Und schließlich war man doch jeden Sonntag in seinem Haus, bevor man nach Hause ging. Zusammengewohnt hat man nicht mit Gott. Er ist einfach zu heilig, aber schön, in dieser großen Vitrine in der Mitte des Dorfes.
Der Volksmund weiß: Wer feiert, der kann auch arbeiten. So ist es auch mit dem Wort Gottes: Es drängt ins Leben. Es ist zu ernst und zu lebendig, um es mit schrägem Köpfchen selig gesäuselt anzuhören. Hört dieses Wort, ihr Jüngerinnen und Jünger des vom Kreuzestod Auferstandenen. Es ist wirkt und will Wirklichkeit werden. Hört dieses Wort und lasst es wirklich leben!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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